Ich musste mich mein halbes Leben fürs Gaming schämen
von Pascal Parvex am 01.10.21 um 18:21

Crosspost aus dem Maniac:

Ich hatte gestern bei den Eltern am Abend ein Riesenwortgefecht mit meinem Vater. Er hat wohl gemeint, er könne mich wegen meiner politischen Ansichten (Linksgrün versiffter Gutmensch) bis zu seinem Lebensende als dumm und beschränkt hinstellen ("Überlege Mal, was du da sagst*" Mimimimi!). Dabei habe ich damit nie angefangen, sondern immer er. Er hat das X-Mal schon gemacht, ist über die linken "Parasiten" (Seine Wortwahl), welche den ach so armen Reichen immer nur das Geld wegnehmen wollen, hergezogen. Ich war da immer defensiv, obwohl er mich natürlich jedes Mal persönlich getroffen hat. Gestern war aber das Fass voll.

So, jetzt zum Gamingbezug: Bin ich der einzige, der sich seine ganze Pubertät und darüber hinaus für seine Gamingleidenschaft schämen musste, ja fast als Aussätziger behandelt wurde? Mein Vater ist mit meinem älteren Bruder früher mehr als einmal die rund 200 Kilometer (Ein Weg!) nach Sion im Wallis gefahren, um dort ein Spiel der Lieblingsmannschaft Sion (Sitten) anschauen zu gehen. Es wäre ihm aber scheinbar nie in den Sinn gekommen, mit mir auf eine Computermesse zu fahren, jedenfalls stelle ich mir das so vor. Als ich ihn gefragt habe, ob er mir einen PC für einen Tausender kauft, hat er nein gesagt. Aber für meine klavierspielende Schwester hat er ohne mit der Wimper zu zucken einen Klavierstuhl, auf dem man nur sitzen kann, für 600 Eier gekauft. Reiner Luxus, und seit Jahren wird er nur noch als Ablage benutzt. Und das eigentliche Klavier war wahrscheinlich gratis oder was, und von den Wartungsarbeiten ganz zu schweigen; dazu kommt, dass dieses Klavier in bis heute wohl 10:1 weniger Stunden benutzt wurde, als der einzige Computer damals. Ich musste also bis 1996 mit Vaters 386er, der nicht mal ein Soundkarte hatte (X-Wing mehr als einmal ruckelnd durchgespielt, ohne einen einzigen Ton, ein Star Wars Spiel ohne Ton, geil wa'?) durchhalten, bis er endlich was neues kaufte. Dafür durfte ich mich immer, wenn mein Vater an den PC wollte, demütigend von ihm verscheuchen lassen. Meine Computer und Konsolen habe ich allesamt selber bezahlt.

Während der 1990er Jahre waren PC-Spiele meine Leidenschaft. Und ich musste mich vor der ganzen Familie und dem Grossteil der restlichen Gesellschaft immer dafür schämen, weil ich wohl Computerspielesüchtig bin. Mein Diagonalnachbar hat mir auch eines Tages auf dem Schulweg sehr genervt zu verstehen gegeben, ich solle nicht immer nur über Computerspiele reden. Das ewige Gelaber über Sport ist da natürlich etwas ganz anderes... In der Schule haben sie mich ausgelacht, weil ich über Computerspiele gesprochen habe. Als ich einer Klassenkameradin auf ihre Frage, wie lange ich denn so am Computer bin, mit zwei Stunden geantwortet habe, hat sie auch so reagiert als ob ich Kinder fressen würde. Ich kann mich auch erinnern, wie ich am PC im Hobbyraum am Spielen der Sharewareversion von Jazz Jackrabit war. Meine Geschwister haben daneben Fernsehen geschaut, und mein Bruder meinte dann mal, ob ich wirklich dieses dumme Computerspiel spielen muss, das gehe ja gar nicht, und meine beiden Schwestern haben dem zugestimmt. Jazz Jackrabit spielen kann halt nicht mit der Leistung mithalten, das käsige Beverly Hills 90210 ernsthaft zu schauen, gell? Ich hingegen musste das geniale Civilization (ich hatte es beim Diagonalnachbar gesehen und wusste sofort: Das muss ich haben) unter der Woche heimlich während der Nacht spielen, weil ich nur an freien Halbtagen maximal zwei Stunden an den PC durfte. Und die ganzen zwei Wochen Winterferien war immer dumme Skiferien angesagt, ich musste also immer zwei Wochen lang auf jeglichen Computerkontakt verzichten, und als Belohnung für die erzwungene Enthaltsamkeit am Tag nach der Ferienrückkehr wieder in die Schule.

Wisst ihr, wie das ist, wenn man in der heiklen Phase der Pubertät Computerspiele als grösste Leidenschaft hat, aber niemanden (mehr), mit dem man darüber sprechen kann? Das ist wirklich "geil", kann ich euch sagen. Ich konnte mit niemandem meine Leidenschaft teilen, musste immer so tun, als ob ich natürlich kein Computerfreak bin an gesellschaftlichen Anlässen. Ich habe es auch natürlich nie gewagt, mit dem Wunsch einer Konsole an meine Eltern heranzutreten, weil man damit ja nur dumme Spiele spielen kann, der Gipfel der Lebensverschwendung. Und was ist Heutzutage? Jeder Depp starrt auf seinen mobilen Kommunikationscomputer, sehr wahrscheinlich auch die Klassenkameradin, welche sich damals nicht vorstellen konnte, soviel Zeit mit einem Computer zu verschwenden.

Bin ich der einzige, dem es so ging?

Mit Tokio Hotel ging es mir übrigens ähnlich, nur war ich da schon erwachsen und habe da einfach gemacht, statt mich vor lauter Autoritätsgläubigkeit und Gesellschaftsdruck selbst zu kastrieren. Aber dies ist ein anderes Thema.




*Mein Vater meint wohl, obwohl ich in meinen bisherigen 42 Jahren Leben mehr Zeit zum Nachdenken, Studieren und Philosphieren hatte als er mit seinen 74 Jahren, ich hätte meine politischen Ansichten eines langweiligen Januarmorgens auf dem Klo aus meinem Arsch gezogen...

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